20.04.2022

Allen Zumutungen zum Trotz: Corona hat es gut gemeint mit der Küche. Im Jahr 2021 vielerorts mit zweistelligen Umsatzzuwächsen. Dennoch sind die Unsicherheiten groß. Und die Branche wie gefangen zwischen dem, was war, was ist und vielleicht sein könnte. Das Editorial aus KÜCHENPLANER 3/4 2022.

Dirk Biermann, Chefredakteur KÜCHENPLANER online/offline

Wer von Matthias Horx ein gequältes Lächeln ernten möchte, muss ihm eine Glaskugel schenken. Ein Dutzend Exemplare und mehr sollen sich bereits angesammelt haben. Was er nicht sonderlich schätze, wie er einmal bei einer Veranstaltung im ostwestfälischen Lemgo erzählte. Doch allzu viele Gastgeber halten es für einen feinsinnigen Witz, den Gründer des Zukunftsinstituts damit zu beschenken.
Wo er diese Präsente aufbewahrt, ist nicht überliefert. Im Büro sicher nicht. Denn Glaskugeln dürften das Letzte sein, womit Trend- und Zukunftsforschende etwas anfangen können. Wohl eher mit einer gut gesäuberten Brille. Denn diese Fachleute schauen hin. Sie blicken in die Welt und dokumentieren das, was sie sehen. Die großen Entwicklungen beginnen stets im Kleinen. In der Subkultur kreiert sich, was später Mainstream wird. Manchmal in einer der Trendsetter-Metropolen, mal in einem beschaulichen Winkel. Was haben wir uns anfangs über das Wohnen auf kleinsten Flächen die Augen gerieben. Oder spöttisch die Stirn gerunzelt, als großstädtische Nerds ihre grünen Daumen entdeckten. Inzwischen sind Tiny Houses und Urban Gardening feste Größen und beschäftigen ganze Industriezweige und fast jede Handelsform. So lautet die Grundregel der Zukunftsforschung: Was morgen Trend ist, wird heute bereits irgendwo gelebt. Das Aufspüren und die Fortschreibung dessen, was ist, beschert der Zunft ihre Trefferquoten.

In den Grundzügen könnte also vieles vorhersehbar sein. Und damit gut planbar. Wären da nicht die „Schwarzen Schwäne“. So bezeichnen Trend- und Zukunftsforschende unvorhergesehene Ereignisse, die alles durcheinanderbringen. Gerade noch stabile Trends fallen in sich zusammen, neue Entwicklungen nehmen rasant Fahrt auf und mutieren zu Megatrends. Die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 war ein solcher Schwarzer Schwan. Ebenso die Kernschmelze in Fukushima. Oder der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 und die daraus resultierende globale Finanzkrise. Lebten wir bis zu diesen Ereignissen recht sorglos in der Meinungsblase unserer persönlichen Überzeugungen, schien es plötzlich nur noch um Sicherheit zu gehen. Kollektiv wie individuell. Themen wie Gesundheit, Individualisierung und Cocooning wurzeln in diesen Ereignissen. Denn die wiederkehrende Botschaft seit Anfang der 2000er-Jahre lautet: Nichts ist mehr sicher. Wir müssen uns auf uns selbst besinnen, auf eigene Stärken und unsere heimischen vier Wände.

Im Grunde hat sich die Welt fix mit diesem Wechsel arrangiert und wo möglich wirtschaftlich genutzt. Der Einrichtungsbranche beschert die sicherheitsfokussierte Besinnung aufs eigene Heim beständig steigende Umsätze und gute Gewinne. Dann tauchte der nächste Schwarze Schwan auf. Erst im chinesischen Wuhan, später im Rest der Welt. Wie alle Ereignisse dieser Größenordnung legte auch Corona jene Schwachstellen offen, mit denen wir uns eingerichtet hatten. Kaum mangelte es an einzelnen Rohstoffen, gerieten gesamte Prozessketten ins Schlingern. Und steckte ein Containerschiff fest, kollabierte die globale Logistik. Inmitten dieser abermals umwälzenden Veränderungen folgte bereits der nächste Schwarze Schwan. Der Angriffskrieg auf die Ukraine. Und wieder geschehen Dinge, die eigentlich so niemals hätten passieren dürfen und es dennoch tun. Dramatische Vorkommnisse mit dem Potenzial für dramatische Auswirkungen.
Wie geht die politische Welt mit diesem Schwarzen Schwan um? Und wie die Unternehmen und Menschen hierzulande mit ihren Konsumentscheidungen? Wird die anvisierte Loslösung von Energielieferungen aus Russland zu Energieeinsparquoten führen, auf die Klimaforscher schon lange hoffen? Wird es die Investitionen in erneuerbare Energien forcieren? Wird die mögliche Nicht-Verfügbarkeit einzelner Lebensmittel dazu führen, dass künftig nicht mehr bis zu 30 Prozent intakter Waren vernichtet werden, weil sie das ästhetische Empfinden beim Einkaufserlebnis kurz vor Ladenschluss beleidigen könnten?
Der jüngste Schwarze Schwan der Weltgeschichte, der Krieg in der Ukraine, ist ein blutiger. Er bringt viel Leid und hat prägende Veränderungen in Gang gesetzt. Manche liegen noch völlig im Nebel. Wie es weitergeht? Der Blick in die Glaskugel wird auch diesmal nicht helfen. Dafür Würde und Tatkraft.


Dirk Biermann, Chefredakteur KÜCHENPLANER online/offline


Die gedruckte Ausgabe von KÜCHENPLANER 3/4 2022 erscheint am 22. April 2022. Das E-Paper ist bereits erhältlich.