04.04.2011

Manche Geschichten sind derart absurd, dass sie schon wieder Unterhaltungswert haben. Der Inhalt einer Mail vom 28. Februar gehört dazu. Als Leiter „Rechnungswesen Revision“ eines renommierten Londoner Bankinstituts kündigte mir ein gewisser Dr. Ralph Brown ein famoses Geschäft an. In seiner Abteilung sei im Rahmen des jährlichen Großreinemachens ein verwaistes Konto entdeckt worden. Mit 16,5 Millionen Pfund Sterling Guthaben.

Dieses Konto habe einst einem mexikanischen Milliardär namens Moises Saba Masri gehört, der bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen sei. Samt seiner Frau, seines Sohnes und seiner Tochter.

Jetzt sitzt Dr. Brown auf den Millionen und hat Stress. Denn trotz intensiver Mühen habe er keine Verwandten ausfindig machen können. Er schreibt mir, da ich ihm als vertrauenswürdige Person empfohlen worden sei. Sein Vorschlag: Ich mime den trauernden Hinterbliebenen und erhalte 40% des Vermögens. 60% seien für ihn selbst. Als Kostenpauschale.
Selbst dem gutgläubigsten Mail-Empfänger dürfte dämmern, dass an dieser Geschichte etwas stinkt. Dafür bedarf es nicht einmal der im dritten Absatz geäußerten Bitte, möglichst rasch Kontonummer samt Pin-Code zu übermitteln. Damit die 6,6 Millionen Pfund Sterling überwiesen werden können. Für wie dumm hält mich Dr. Brown eigentlich?

In der Küchenabteilung eines Möbelhauses erlebte ich kürzlich ähnliche Gefühlswallungen. Obschon ungleich realer. Dekoriert war die Koje meines Erstaunens mit einer L-Küche mit ca. 4 x 2,5 laufenden Metern. Die Fronten bedienten den Geschmack der Masse und glänzten in Magnolie. Die Arbeitsfläche bot einen heimeligen Kontrast, solide beschichtet. Geräte, Spüle und Armatur stammten aus dem Segment der gehobenen Mitte. Ausgezeichnet war dieses durchschnittliche Exemplar bundesdeutscher Küchenbaukunst mit einem Preis von 36000 Euro.
Als Leser einer Küchenfachzeitschrift wissen Sie, dass dieser Preis nichts zu bedeuten hat. Der Verkäufer wird gönnerhaft einen großzügigen Rabatt andeuten, einmal bei seinem Abteilungsleiter nach einer zusätzlichen Reduzierung anfragen und ein weiteres Mal beim Hauptabteilungsleiter mit dem identischen Anliegen vorstellig werden. In der Regel hat der Küchenkunde ein Riesenglück, denn ausgerechnet an diesem Tag greift eine ganz besonders seltene Verkaufsaktion, die den Preis der Küche auf nahe 8000 Euro senkt. Aber der Kunde müsse sofort unterschreiben. Morgen sei es zu spät. „Wann spart man schon mal 28000 Euro auf einen Schlag“, dürfte der Kunde unter Hochdruck abwägen – und unterschreiben. Ein ärgerlicher Aktionismus, denn die Signatur kann ihn etliche unnütz ausgegebene Euros kosten. Diese hätte der Kunde besser für tatsächlichen Nutzen ausgegeben.

Nach Aussage mehrerer führender Küchenmöbel- und Gerätehersteller geht diese ebenso wohlbekannte wie heftig kritisierte Preispolitik auf das Konto einer einschlägig dafür bekannten Handelsform. Man selbst, so die übereinstimmende Aussage, habe damit nichts zu tun. Der Sprecher eines großen Möbelhauses verteidigte vor einigen Monaten in einem NDR-Fernsehinterview derartige Rabattstrategien mit dem Hinweis, dass dies in der Branche so üblich sei.

Dem ist zu widersprechen. Es ist Zeit, dass die Branche zeigt, dass Rabattvermarktung nur von einem Teil des Handels favorisiert wird und dass Küchen auch von Beginn an fair verkauft werden können. Es ist Zeit, ein konkretes Gegengewicht zu den unseriösen Machenschaften der reinen Rabattvermarktung aufzubauen. Und sei es aus purem wirtschaftlichen Eigennutz. Phantasiesummen ­schrecken vom Küchenkauf ab, bevor dieser überhaupt begonnen hat. „36000 Euro für eine Küche? Zu teuer! Dann halt doch lieber das Auto, die neue Unterhaltungselektronik oder die lange erträumte Fernreise.“ Woher soll der Durchschnittskunde wissen, dass die 36.000 Euro nur ein Spaß sind? Wenngleich ein schlechter. Kunden, die man gar nicht erst in den Laden bekommt, kann man nicht begeistern und letztlich nicht überzeugen. Authentizität beim Küchenkauf sollte sich nicht auf die Oberflächenstruktur der Fronten reduzieren.

Der Journalist und Buchautor ­Ulrich Wickert plädierte einst für einen Aufstand der Ehrlichen. Ein solcher Aufstand wäre in der Küchenbranche sicher nicht verfrüht. Vorangehen könnten die Einkaufs- und Marketingverbände. In einer gemeinsamen Aktion, die Marktrivalitäten in diesem Punkt gewinnbringend für alle außen vor lässt.
Dieser Appell richtet sich an die Verantwortlichen von Gruppierungen wie DER KREIS, MHK, ­Küchenring, Küchen Partner, ­Küchentreff oder Küchen-Areal: Schaffen Sie Ihren Mitgliedern zuliebe endlich ein praktisches Gegengewicht zur ruinösen Rabattvermarktung. Entwickeln Sie einen gemeinsamen Slogan, der in der öffentlichen Wahrnehmung ankommt, und füllen Sie diesen mit Leben. Zeigen Sie den Dr. Browns dieser Welt, dass Ihre absurden Geschichten zum Himmel stinken wie ein verdorbener Fisch.

Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de