23.02.2021

Wie das Internet wirklich tickt

Industrie und Verbände modernisieren ihre Internetseiten, und immer mehr Planer beraten im virtuellen Raum inzwischen ähnlich geschmeidig wie in echt. Digitalisierung ist das Gebot der Stunde. Und das Internet der Raum der Möglichkeiten. Fatal nur, dass wir kaum wissen, was uns dort erwartet.

Dirk Biermann, Chefredaktion KÜCHENPLANER online/offline.

Page Impression, Viewability, Targeting – Gespräche mit Onlinemarketing-Profis rufen in mir eine angestaubte Kompetenz wach. Sie datiert aus der Schulzeit: wissend nicken bei weitgehender Ahnungslosigkeit. Diese Strategie hat in Physik und Französisch gut funktioniert, jedenfalls bis zum nächsten Zwischenzeugnis, doch beim Thema Online gerät sie heutzutage schnell an ihre Grenzen. Denn die Internetwelt spricht ihre eigene Sprache, und wer mitreden will, sollte Vokabeln kennen.
Dabei fing alles so harmlos an. An einem Herbsttag Ende Oktober 1969 brachte der US-amerikanische Professor Leonard Kleinrock erstmals zwei Computer über eine Telefonleitung zusammen. In den nächsten 20 Jahren kam Schwung ins Thema Vernetzung, und Anfang der 1990er-Jahre war das World Wide Web in jener Weise geboren, wie wir es heute kennen: Als weltumspannendes, offenes Computernetzwerk, in dem jeder Informationen speichern, veröffentlichen und versenden kann. Mittlerweile nutzen mehr als vier Milliarden Menschen das Internet und gehen online – mit Smartphone, Tablet, Laptop oder Schreibtisch-Computer. Was für eine Freiheit! Jeder kann sich mitteilen, informieren, einkaufen und mit seiner Zielgruppe direkt in Kontakt gehen.

Doch stimmt das überhaupt? Was wissen wir über das digitale Universum, das unser aller Leben längst beeinflusst und in Zukunft noch viel intensiver beeinflussen wird? „Vergleichsweise wenig“ behaupten Martin Andree und Timo Thomsen. Die Autoren haben sich nicht mit allgemeinen Behauptungen und oberflächlichem Zahlenmaterial zufriedengegeben. Mit ihrem Buch „Atlas der Digitalen Welt“ haben sie sehr viel tiefer geschaut und das Internet quasi erstmals vermessen. Und das angetrieben von Fragen wie: Wer ist überhaupt im Netz unterwegs? Nach Geschlechtern und Altersgruppen aufgeschlüsselt. Was machen die Menschen im Internet? Und vor allem in welcher Intensität? Gibt es Unterschiede, ob Inhalte mit dem Smartphone, dem Tablet oder am Desktop-PC betrachtet werden (Ja, die gibt es!!)? Im „Atlas der Digitalen Welt“ stehen nicht Untersuchungen zu Nettoreichweiten im Fokus, also die Frage, wie viele User mein Angebot angeklickt haben, sondern die Kombination dieser Zahlen mit der Nutzungsdauer. Kurz: Wie viel Aufmerksamkeit gemessen in Zeit erhält mein Angebot überhaupt – und von wem und mit welcher Technologie konsumiert? Der daraus resultierende Wert wird als Duration bezeichnet. Wer sich damit näher beschäftigt, wird sich niemals wieder allein mit Page Impressions abspeisen lassen.

Die massive Konzentration der Online-Welt ist einer der tragenden Erkenntnisse der Autoren. Im Buch dient dies als Basis für wichtige Schlussfolgerungen. Klar wissen wir, dass Google (Alphabet), Facebook, Apple und Amazon ziemlich groß sind. Aber nur bedingt, wie sehr diese Konzerne den Großteil des Geschehens (Traffic) tatsächlich bestimmen. Im Schatten des dynamischen Wachstums dieser Player wird es für kleinere Anbieter zunehmend schwieriger emporzukommen oder zu bestehen. Manchmal ist dies fast unmöglich, weil sie gar nicht mehr genügend wahrgenommen werden. Denn die Aufmerksamkeit der Nutzer wird längst auf die eigenen Angebote gelenkt. Oder es werden geschlossene Systeme geschaffen, in denen die Nutzer im goldenen Käfig sitzen: ob dieser nun Apple heißt, WhatsApp, Amazon Prime oder YouTube. Bitter: Selbst die Internetseiten von sehr großen Unternehmen und fachkundigen Bloggern sind in Duration betrachtet oft gar nicht mehr messbar.

Massenmedien haben schon immer die Wahrnehmung der Menschen beeinflusst und damit Wirklichkeit geschaffen. Allein durch die Auswahl der Inhalte. Das hat sich nicht verändert, nur verschoben. Heute bestimmen zunehmend die Internetkonzerne über das, was wahrnehmbar gemacht wird. Und diese Auswahl orientiert sich allein am Geschäft. Was gleichermaßen für das Social Web gilt. Auch hier zeigt sich die einst erhoffte Freiheit im Internet zunehmend als Märchen. Sobald genügend Nutzer an Bord sind, geht es ausschließlich um die Monetisierung des Angebots und damit um die Frage, wie noch mehr Werbung platziert werden kann. Dieses Wissen soll niemandem das Internet vermiesen, aber es kann helfen zu erkennen, worauf man sich einlässt, welche Langzeitfolgen möglich sind und wie man es trotz allem clever nutzen könnte.

Dirk Biermann
Chefreaktion KÜCHENPLANER online/offline

Dieser Beitrag erscheint als Editorial der Ausgabe KÜCHENPLANER 1/2 2021. Erscheinungsdatum der Printausgabe ist der 26. Februar 2021; das E-Paper ist bereits veröffentlicht.