17.08.2016

Seit jeher beflügeln sie die Phantasien: Gedanken zur „Küche der Zukunft“. Wir sind auf Spurensuche gegangen: Wie sieht sie aus? Was kann sie? Und wer ist für die Umsetzung überhaupt zuständig?

Jüngstes „Zukunftsprojekt“ mit Technologien, die heute bereits existieren: „The Invisible Kitchen“, präsentiert von ­Miele während der ­EuroCucina. Foto Miele

„Wohnraum wird sich in zwei Bereiche teilen: in einen aktiven und einen ruhigen Teil.“ ­Katrin de Louw. Foto Biermann

„Der reale ­Nutzen muss im Mittelpunkt ­stehen.“ ­Stefan ­Ambrozus. Foto Design-Studio Ambrozus

„Hausgeräte werden im Baukastensystem gekauft.“ Andreas Enslin. Foto Miele

Die Frankfurter Küche galt 1926 gewiss ebenfalls als die „Küche der Zukunft“. Ausgearbeitet wurde sie von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, um die Handlungsabläufe in der Küche zu rationalisieren und das Arbeiten zu vereinfachen. Heute gilt die Frankfurter Küche als Mutter der modernen Einbauküche. Foto AMK

Die ernüchternde Nachricht vorweg: Fast scheint diese Spurensuche in einer Sackgasse festzustecken, bevor sie überhaupt Fahrt aufgenommen hat. Denn die Küche der Zukunft ähnelt einer Fata Morgana, die sich hieb- und stichfesten Fakten entzieht, wo sie nur kann. Dennoch sind Entwicklungen wahrnehmbar. Vorboten auf Veränderungen, die das Kochen und Leben im Küchenraum so, wie wir es gewohnt sind, auf links drehen könnten. Doch diese eine Wahrheit, diese einzige, alles erhellende Antwort, auf die zuvor gestellten Fragen? Nein, die gibt es nicht. Dafür ändert sich unser Leben zu rasant. Neue Technologien werden entwickelt, gefeiert und sind kurz darauf schon wieder ein Fall für den Wertstoffhof. Was heute als Premium glänzt, könnte in einer Gesellschaft, die sich ins Teilen verliebt, vielleicht morgen schon auf dem Dekadenz-Index obenan stehen. Oder wird – ganz gegenteilig – überhöht und zum nicht diskutierbaren Must-have erklärt. Werte und Normen unterliegen einem stetigen Wandel. Bedürfnisse ebenso. All das sind Faktoren, die sich auf unser Leben und auf das Wohnen generell auswirken – und damit auch auf die Küche.
Und es sind Einflüsse, die immer wieder alles anders machen. „Das Leben wird komplexer und wir werden kaum noch hinterherkommen“, sagt Andreas Enslin dazu. Enslin ist Designchef von Miele und beschäftigt sich deshalb täglich von Berufs wegen mit dem, was vermutlich alles auf uns zukommen wird, und was das für den Lebensraum Küche im Allgemeinen bedeutet und für die Entwicklung von Hausgeräten im Speziellen. Gedanklich arbeitet er bereits im Jahr 2030.

Knappen Wohnraum besser nutzen
Doch machen wir es uns für den Moment bequem und bleiben beim Begriff „Küche der Zukunft“. Als eine Art gefälliger Arbeitstitel. Und als bewusste Vereinfachung, um etwas Ordnung in diese chaotisch anmutende Vielschichtigkeit aktueller und künftiger Entwicklungen zu bringen.
Wie sehr das weiterhelfen kann, lässt sich im Gespräch mit Katrin de Louw erahnen. „Im Grunde brauchen wir für Küche sogar ein neues Wort“, lautet eine der prägnant zugespitzten Aussagen der Innenarchitektin und Trendforscherin aus Bünde. Auch de Louw beschäftigt sich wie Andreas Enslin professionell mit der Zukunft und skizziert regelmäßig, was in der Möbel- und Einrichtungswelt wichtig ist und wird – beim Event „Trendfilter“ im servicepoint A30. Erst kürzlich folgten fast 150 Experten ihren Ausführungen beim „Trendfilter 2016“. 
Aber gleich ein neues Wort für Küche? Uff. „Die Urbanisierung ist einer der prägenden Trends unserer Zeit“, erläutert Katrin de Louw. Und damit einhergehend werde geeigneter Wohnraum immer knapper. Oder im Umkehrschluss: Der vorhandene Raum muss immer besser genutzt werden, barrierefrei fürs Altern konzipiert und auf die Bedürfnisse von Ein- und Zwei-Personenhaushalte zugeschnitten sein. Die werden nämlich immer mehr. „Brauchen wir in jeder Wohnung die gute Stube, in der sich die Familie um den Fernseher herum zur Samstagabend-Show versammelt, wenn der Medienkonsum zeitlich und örtlich immer flexibler wird?“, fragt die Trendforscherin. Das meint sie natürlich rein rhetorisch. Dass die Mediathek-App beginnt, der TV-Zeitschrift den Rang abzulaufen, ist schon heute wahrnehmbar.

Wohnen wird neu aufgeteilt
Im Wohnungsneubau wird die klassische Raumnutzung immer häufiger auf dem Prüfstand stehen. Die Einteilung Wohnen, Essen, Schlafen, Bad, Kind 1, Kind 2, Arbeiten und Gäste WC gilt in manchen Umsetzungen als Auslaufmodell. Sie wird abgelöst von einer Aufteilung des Wohnraums, die in einen aktiven und einen ruhigen Teil unterscheidet. Der aktive Teil ist lebendig, laut und öffentlich. Es wird gekocht, gemeinsam gegessen, sich begegnet, allein und gemeinsam gearbeitet, die Schulaufgaben gemacht und Freunde bewirtet. Im ruhigen Teil der Wohnungen und Häuser hängt hingegen ein Schild an der Tür mit der Aufschrift „­Privat“: schlafen, ruhen und regenerieren stehen hier im Mittelpunkt. Und die Körperhygiene. Das Bad im Schlafzimmer? „Bestimmt wird das in den nächsten Jahren in Deutschland nicht zum Mainstream“, räumt Katrin de Louw ein, doch die Tendenz geht in die skizzierte Richtung.

Trends wirken anfangs oft skurril
Das Bad als Bestandteil des Schlafzimmers dürfte außerhalb der Trendforschung und der Werbung derzeit allenfalls ein Thema für Einrichtungs-Trendsetter, Design-Hotels und Großprojekte in Mega-Städten sein. Zur Lebensrealität der meisten Menschen hierzulande passt das nicht. In Deutschland leben von 82,5 Mio. Einwohnern aktuell schließlich fast 60 Mio. Menschen in kleinen Ortschaften auf dem Land oder in provinziell geprägten Kleinstädten. Wenn wir unserem Nachbarn mit dieser Schlafzimmer-Bad-Idee kämen, zeigte uns dieser vermutlich schlicht einen Vogel.
Andererseits wirken viele Trendaussagen im Anfangsstadium skurril. „Urban Gardening“ zum Beispiel, das Gärtnern in der Stadt, auf den Flachdächern von Hochhäusern oder auf den Mittel­inseln der Straßen. Als diese Idee vor fünf oder sechs Jahren aus den USA über den Atlantik schwappte, tippten sich viele von uns ebenfalls an die Stirn und lächelten milde ob der merkwürdigen Idee. Doch die Trendforscher behielten Recht. Innerhalb weniger Jahre hat sich das „Urban Gardening“ zum „­Urban Farming“ weiterentwickelt und auch die Küche erreicht – mit Schränken, in denen Kräuter und klein wachsende Gemüsesorten täglich frisch geerntet werden können. Wachsen und gedeihen vermag das Grünzeug, weil diese Einbauschränke mit einem speziellen Pflanzlicht ausgestattet sind.

Idee der versteckten Küche
Bleibt die Grundthese, dass die Küche als separater Raum bald nicht mehr existieren wird. Diese Vorstellung ist nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Doch wie sagt Katrin de Louw: „Wenn Wohnraum knapp bemessen ist, muss er vielfältig und flexibel genutzt werden.“ Dann sollte die Küche nicht wie eine klassische Küche aussehen, sondern sich möglichst im Handumdrehen von der Zubereitungsecke in eine chillige Feierabendlounge verändern lassen. Lichtstimmung inklusive. Die Idee der wegschließbaren Küche, bei der die Funktionsbereiche, wenn sie nicht gebraucht werden, hinter großen Schranktüren und sanft dahingleitenden Arbeitsflächen verschwinden, haucht dieser Anforderung schon heute Leben ein. Auf der EuroCucina 2016 war dies allgegenwärtig.
In Deutschland scheinen wir der Idee der versteckten Küche oft noch skeptisch gegenüberzustehen. Wenngleich der offen konzipierte Wohnraum im Neubau bereits fast Standard ist und die besten Voraussetzungen dafür bietet. Die allgemeine Zurückhaltung ist jedoch nachvollziehbar und wohl nicht allein mit typisch deutschem Starrsinn zu begründen. Vielmehr dürfte der Bestand an gut ausgebautem Wohnraum der Vorstellungskraft gedankliche Grenzen setzen. International sieht das häufig anders aus. Und Trends, deren Zeit reif ist, scheren sich nicht um nationale Schlagbäume.

Es muss dem Menschen dienen
Die zunehmende Verstädterung des Wohnens, die sogenannte Urbanisierung, ist nur einer der Megatrends, die das Wohnen in der Zukunft beeinflusst. Als weitere Stichworte nennt Katrin de Louw die Stichwörter „demografischer Wandel“, „Connectivity“ und „Gesundheit“. Stopp: „Connectivity“. Da ist es wieder, dieses Wort, das uns in der Küchenbranche allerspätestens seit der IFA 2014 in Sippenhaft nimmt. Die Vernetzung der Lebensbereiche und der Technologien hat länger schon an die Küchentür geklopft. Anfangs höflich und sogar ein bisschen schüchtern – doch inzwischen unüberhörbar. Vernetzbare Hausgeräte sind da und weigern sich, wieder zu verschwinden. Wir haben uns mit ihnen auseinanderzusetzen.

Nutzen, Nutzen, Nutzen
Sollte unsere Suche nach der Küche der Zukunft letztlich bei den Hausgeräten enden? Mit der Formel „Vernetzte Küche = Küche der Zukunft?“ „Ja“, sagt der Industriedesigner Stefan Ambrozus dazu. Und „Nein“, fährt er fort, „wenn die Technik und die elektronischen Bedienhilfen zum Selbstzweck werden.“ Stattdessen plädiert er für eine kompromisslose Nutzen- und Kundenorientierung als Leitidee. Treu dem Motto: „Nur weil ein Gerät mit dem Internet verbunden werden kann, muss das nicht unbedingt sinnvoll sein.“ Dennoch sieht er natürlich Chancen darin und nutzt diese.
Stefan Ambrozus und seine Mitarbeiter sind seit vielen Jahren in der Küchenbranche verwurzelt. Kunden wie Grass, berbel, Homeier, Häcker und Rockenhausen bauen auf die Ideen des Kölner Designstudios. Entwicklungen bei Möbeln und Möbeltechnik finden seiner Erfahrung nach in kleinen Schritten statt, sind also eher evolutionär statt revolutionär. Entsprechend tragen diese Produktbereiche auf leisen Sohlen zum Zukunftsthema bei. Wenngleich in der Summe unüberhörbar und über die Jahre gesehen stilprägend, wie Erfindungen wie das verdeckte Möbelscharnier, Selbsteinzug und Dämpfung beweisen. Erst Innovationen wie diese haben zukunftsfähige gestalterische Ansätze im Möbel- und Raumdesign überhaupt möglich gemacht. „Schmal, geradlinig, elegant“ – das sind die Entwicklungsziele, die in der Möbeltechnik in den nächsten Jahren den Ton angeben werden. Dafür wird die Technik selbst noch geschickter als ohnehin integriert, und immer flexibler umsetzbare Plattformkonzepte eröffnen den kreativen Raum für eine immer weiter reichende Individualisierung.
„Bei den Hausgeräten ist die Situation eine andere“, fährt Ambrozus fort und begründet dies mit dem rasanten Entwicklungstempo dieser Produktgattung. Bezogen auf das Spannungsfeld Revolution-Evolution. Bestes Beispiel seien die elektronischen Steuerungen, mit denen sich immer neue und interessante Funktionen umsetzen ließen. Doch wofür? Wem nutzt die jeweilige technische Möglichkeit? Das fragt sich das Team von Stefan Ambrozus bei jedem Projekt. „Wenn unsere vielen kleinen elektronischen Helfer uns zu stressen beginnen, ist etwas schief gelaufen“, sagt er. Und er ergänzt: „Stattdessen braucht jedes Gerät eine erste Bedienebene, die der Nutzer intuitiv schnell erfassen kann.“ Für weitere technische Feinheiten und Sonderfunktionen bleiben die tieferen Menü-Ebenen zwei, drei oder vier. Das Eldorado der technikbegeisterten Küchennutzer – und die Arbeitsumgebung für den Service der Gerätehersteller.
Mit dem Ofen sprechen
Auch wenn Andreas Enslin von Miele über diese Zusammenhänge spricht, geht es im Kern um den Bedienkomfort. Denn noch elementarer als das zweifellos wichtige Aussehen der Produkte sei die Frage, wie die Komplexität moderner Geräte künftig beherrschbar bleiben kann. Der Chefdesigner ist davon überzeugt, dass es stets Knebel und Regler zur Gerätebedienung geben wird. Nicht alle Geräte und Möbel werden grifflos oder über Touchscreen gesteuert. Dass Geräte in Zukunft über Sprache gesteuert werden können, sei hingegen nur eine Frage der Zeit.

Der Nutzer will intuitiv verstehen
Ein Tag der Zäsur war der 29. Juni 2007. An diesem Freitag führte Apple das iPhone in den Markt ein. Seitdem bedienen wir Geräte anders. Das iPhone war das erste Smartphone, das nur eine Tas­te besaß und sich fast vollständig durch Fingergesten steuern ließ. Der Clou dabei: Das Telefon ließ sich intuitiv bedienen. Eine völlig neue Qualitätsstufe war erreicht. Was zunächst nur als Meilenstein für die Smartphone-Entwicklung gewertet wurde, hat sich rasend schnell auf die gesamte Elektroindustrie ausgewirkt.
Der Verbraucher will möglichst sofort und ohne viel Vorwissen ein Produkt beherrschen können. Da sind sich die Designer Ambrozus und Enslin einig. „Der Nutzer macht drei oder vier Versuche, wenn es dann funktioniert, bleibt er dabei. Wenn nicht, dann lässt er es“, erklärt Enslin. „Neue Geräte müssen Freude bringen und gleichzeitig praktisch sein. Die Lebensqualität muss durch sie steigen und den Nutzer auf ein neues Niveau bringen.“
Wo dieser Trend mal münden wird, weiß der Miele-Designchef nicht. Denn die Entwicklungsspirale an neuen Technologien nimmt an Tempo immer mehr zu und erreicht von Tag zu Tag neue Dimensionen. „Aber neue Technologien müssen im Alltag helfen, sonst sind sie wertlos.“ Auch bei dieser Einschätzung sprechen Ambrozus und ­Enslin mit einer Stimme.
Festzuhalten bleibt also: Die Gerätebedienung muss einfach sein. Der Kunde muss eine Qualität wahrnehmen, die über den Standard hinausgeht. Und: Der Nutzer muss seine Erfahrungen von einem Gerät auf ein anderes übertragen können. Heißt im Klartext: Die Bedienung verschiedener Geräte muss nahezu identisch sein.

Der virtuelle Assistent hilft
Die Vernetzung von Geräten ist eins der wichtigsten Themen, mit denen sich Architekten, Planer und Designer derzeit beschäftigen. Aktuell gibt es nach Einschätzung von Andreas Enslin aber noch einen Medienbruch. Ein Beispiel: Der Nutzer ruft ein Rezept mit dem Tablet ab, muss aber den Back­ofen oder Herd dann selbstständig bedienen. Der nächste Schritt ist, dass die Geräte gleich einen Zugriff auf die Rezepte haben und dann auch die Kontrolle bei der Zubereitung übernehmen.
Wie das gehen kann, zeigte ­Miele mit der Vorstellung der „­Invisible Kitchen“ während der ­EuroCucina. Die vernetzte Küche dieser Präsentation sollte komfortabel sein und noch mehr Freude am Kochen vermitteln.
Bei der „Invisible Kitchen“ begleitet ein virtueller Assistent den gesamten Kochprozess. Das System schlägt Rezepte vor oder greift ein, wenn zum Beispiel die Milch überzulaufen droht, wiegt Zutaten ab, gibt Tipps für die richtige Zubereitung und den nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln. Dabei soll das System sogar die Vorkenntnisse des Benutzers berücksichtigen, berichtet Miele. Vorrangig diene der Kochassistent aber der Inspiration.
Diese Ideen kamen an – bei der Live-Präsentation und im „Social Web“. „Wir haben mit der ‚­Invisible Kitchen’ ein viel jüngeres Publikum als sonst üblich bei Messen erreicht, ein Publikum, das sehr technikaffin ist“, berichtet Andreas Enslin. Vor der Präsentation bildeten sich in der Zona Tortona sogar Schlangen. Miele zählte mehr als 22 000 Besucher. Der Designchef betont aber: „Die Technologien und Abläufe, die bei der ‚Invisible Kitchen“ zum Einsatz kommen, sind keine Vision sondern längst existent.“

Ganz anders als im Rest der Welt
Die Reaktionen auf dieses real existierende Zukunftsszenario seien sehr unterschiedlich gewesen. Das Publikum aus Asien und den USA, so Miele, war durchweg begeistert. Gäste aus Deutschland eher reservierter. Eine Tatsache, die Andreas Enslin immer wieder feststellt: „Wir sind hierzulande gegenüber neuen Technologien sehr skeptisch. Die Deutschen stehen sich in Entwicklungsfragen oft selbst im Weg. Deshalb ist Deutschland noch viel weiter von der vernetzten Küche entfernt, als es der Rest der Welt ist.“
Eine weitere wichtige Frage, die sich bei der Vernetzung stellt, ist der Datenschutz. „Wenn ich Zusatzleistungen durch die Vernetzung haben möchte, macht mich das ein Stück weit transparent“, sagt Andreas Enslin. Daher habe bei ­Miele der vertrauensvolle Umgang mit Kundendaten höchste Priorität. Systeme müssen sicher sein. Neue Technologien müssen stets hinterfragt werden. Dadurch könne die Entwicklung neuer Produkte auch sehr lange dauern. Aber die Technik muss bis ins letzte Detail ausgereift sein – wie das gesamte Erscheinungsbild.

Im Baukastensystem
Womit sich erneut und sehr viel konkreter die Frage nach der Optik der „Küche der Zukunft“ stellt. Werden Geräte – analog zur gesamten Einrichtung – künftig bevorzugt grifflos und ausschließlich per Touch-Oberflächen zu bedienen sein? Aktuell ist tatsächlich eine optische Reduzierung festzustellen. Backöfen, Geschirrspüler und Co. werden vermehrt grifflos gestaltet, komplexe Formen verschwinden und oft versteckt sich sogar die gesamte Küche, die, wie wir wissen, in den offen konzipierten Wohnraum integriert ist. Andreas Enslin ist sich indes sicher, dass Produkte der Hausgeräteindus­trie demnächst wie im Baukastensys­tem gekauft werden. Möchte ich Knebel oder Touchscreen? Oder doch Sprachsteuerung? Möchte ich mit meinem Backofen ins Internet? Brauche ich tatsächlich einen Kochassistenten? Oder reicht es mir, dass ich mir bei 160 Grad Heißluft eine Pizza aufbacken kann? Maximale Kundenorientierung gehört bei der Küche der Zukunft also zur Grundausstattung.
Auch Stefan Ambrozus sieht die Bandbreite der Möglichkeiten als einen der elementaren Zukunftsas­pekte. Denn wenn der Mainstream grifflos liebt, hat sich die Gegenbewegung bereits formiert und favorisiert handfeste „ehrliche“ Bedienknebel. Ähnlich ist es mit glänzend und matt, hart und weich, schwarz und weiß. Auch die „Küche der Zukunft“ kommt an manchen universellen Wahrheiten nicht vorbei – und der Anspruch an Individualität braucht ohnehin immer neue Möglichkeiten.

Kein ausschließliches Gerätethema
Aktuell prägen die Innovationen der Hausgeräteindustrie die Vorstellungen von der Küche der Zukunft. „Und doch ist es kein ausschließliches Gerätethema“, interveniert Katrin de Louw. Stattdessen nimmt sie argumentativ die Küchenmöbelhersteller in die Pflicht. Als Schnittstelle, an der das schier unendliche Angebot an Vernetzungsideen gesichtet und gesiebt werden muss, um das Substrat in ein kundenfreundliches Produkt fließen zu lassen. Die Rolle der Küchenmöbelhersteller sieht sie künftig ähnlich der der Automobilhersteller. „Google, Apple und Microsoft liefern die Software, dafür zuständig, dass die Autofahrer während der Fahrt telefonieren oder Musik streamen können, sind diese Unternehmen aber nicht.“

Wer führt es zusammen?
Diese Frage ist wohl das Nadelöhr, durch das die Küche der Zukunft muss, bevor sie Gestalt annehmen kann. In welcher individuellen Umsetzung auch immer. Und mit welchen Materialen auch immer. In zusammenwachsenden Lebensräumen werden neben Holz, Metall, Stein, Glas und Keramik auch Textilien wohl eine immer größere Rolle spielen.
Sind die Küchenmöbelhersteller für die Integration der technischen Möglichkeiten ins Möbel zuständig? Oder wird es künftig noch viel mehr und viel engere Kooperationen der Geräte- und der Möbelindustrie geben, damit der technische Nutzen möglichst optimal zugänglich wird? Bis hin zu gemeinsamen Entwicklungsphasen von Branchenriesen aus beiden Segmenten? Oder sind wir mit diesen Spekulationen bei der Industrie gar an der falschen Adresse und müssten uns eher an die Küchenspezialisten und Wohnraumplaner wenden? Weil dort die Kompetenz angesiedelt ist, einen konkreten Raum individuell und bis in den letzten Winkel bedürfnisorientiert zu arrangieren?

Konzepte sind gefragt
Die „Küche der Zukunft“, so wird immer deutlicher, ist kein definierbarer Zustand. Und vor allem ist sie kein Zufallsprodukt. Wer ein Konzept hat, wird sie gestalten können und damit seine Kunden erreichen. Egal ob aus Industrie, Küchenfachhandel oder Einrichtungsplanung. Der reine Küchenverkauf zum Meterpreis folgt ohnehin seinen eigenen (Preis-) Gesetzen und wird mit dem innovativen Teil des Prozesses nichts tun haben.

Nischen nutzen
Die angesprochenen Mega­trends von Urbanisierung bis Vernetzung und vor allem die sich weiter intensivierende Notwendigkeit nach individuellem, bedürfnisorientiertem Wohnen, schaffen eine Vielzahl neuer Möglichkeiten – besonders für kleine und flexibel agierende Hersteller und spezialisierte Planer und Küchenspezialisten.
Hinzu kommt bei diesen Überlegungen der Faktor Genuss. Schließlich ist und bleibt die Küche zum Kochen da. Jetzt und in der Zukunft. Das ist Kultur und Ausdruck eines lebendigen Lebens, das 1001 Ausdrucksformen kennt. Von Sackgasse also keine Spur.

Von Dirk Biermann & Astrid Plaßhenrich


Unsere Gesprächspartner