01.11.2010

Wenige Themen spalten die Menschheit grundlegender als der Sinn oder Unsinn technischer Entwicklungen. Während die einen enthusiastisch ein neues, bevorzugt goldenes Zeitalter entstehen sehen, in dem nun alles viel besser, schneller, perfekter, hygienischer und komfortabler über die Bühne geht, wähnen die anderen liebgewonnene Gewohnheiten in Gefahr und fragen sich mit faltengefurchter Stirn, wo dieser ganze fürchterliche Schnickschnack nur hinführen solle. Schwarz oder Weiß.

Die den Menschen prägende Fähigkeit zur differenzierten Einschätzung vielschichtiger Sachverhalte geht irgendwo im Entweder-oder-Scharmützel verloren und mehr als ein Erfinder dürfte sich bereits entnervt gefragt haben, warum er bzw. sie sich das überhaupt alles antue. Könnten die Tüftler einige Jahrzehnte in die Zukunft blicken, wüssten sie warum.

Als zum Beispiel 1905 der erste Auto-Scheibenwischer für mehr Durchblick sorgte, entlockte dies vielen Zeitgenossen kaum mehr als ein müdes Lächeln. „Das braucht doch kein Mensch, wofür gibt es die zweiäugige Automobilistenbrillen?“ Und überhaupt: Automobile! Heute möchten wir die geliebten Wischer nicht mehr missen und die Hersteller der sogenannten Aviator-Brillen balgen sich in Oldtimer-Internetforen um ihre handverlesene Kundschaft.


Auch elektrische Fensterheber und die automobile Klimaanlage waren einst der neueste Schrei der Technik. Beide Erfindungen stammen in ihren Anfängen übrigens aus dem Jahr 1938. Zwar nicht ganz in der optischen Form, wie wir es heute gewohnt sind – besonders was die Klimaanlagen betrifft – aber immerhin.


Die elektrischen Fensterheber gingen 1941 beim US-Automobilhersteller Lincoln (heute Ford) in Serie. Hierzulande dauerte es noch bis in die 1950er-Jahre, bis sich die BMW-Verantwortlichen auf dieses neumodische Abenteuer einließen und einen derart ausgestatteten 5er ins Rennen um die Käufergunst schickten. Dass dieser App – um es mal in Apple-Englisch-Deutsch zu formulieren – überhaupt überlebt hat, ist wohl nur dem langen Atem einiger Visionäre zu verdanken. Denn noch bis weit in die 1980er-Jahre hinein waren elektrische Fensterheber im Auto eher Ausnahme statt Regel und für viele von uns nach wie vor überflüssiger Luxus. Was dem einem die Aviator-Brille, ist dem anderen die Kurbel. Unterschiedliche Themen, identische Einstellung.


Welch beschauliches Leben führen wir doch da mit „unseren“ Küchenmöbeln. Spanplatten zurecht gesägt, zum Kasten verschraubt, mit einer schicken Frontoberfläche dekoriert und passend im Küchenraum angeordnet – fertig. Das ist so seit Erfindung der Küchenzeile und wird immer so bleiben.


Denkste. Allein in den letzten zehn Jahren hat die Küche ihr Gesicht derart massiv verändert, dass die Mutter der modernen Einbauküche, Margarete Schütte-Lihotzky, ihre helle Freude daran hätte. Wobei die Vokabel „Gesicht“ nicht ganz den Kern trifft. Denn bei aller Würdigung der gestalterischen und sonstigen Aktivitäten der Küchenmöbelhersteller kann doch festgestellt werden: Die bedeutsamen Entwicklungssprünge fanden in den letzten Jahren hinter der Front statt. Technische Neuerungen wie Selbsteinzug, Dämpfung, Vollauszug, Klappenbeschlag, XXL-Vorratsschrank und Stauraum optimierte Eckschrankbeschläge sind der Einbauküche nicht in die Wiege gelegt worden, sondern gehen auf das Konto ebenso unermüdlich forschender wie ausdauernd kommunizierender Innenausstatter und Beschlägeproduzenten. Als Händler, Hersteller oder Fachjournalist haben wir uns an die meisten dieser Neuerungen so schnell gewöhnt, dass zum Beispiel die in harmonischer Bewegung sanft dahin gleitende Schublade wie selbstverständlich scheint. Was schon mal für eine grundlegende Offenheit gegenüber technischen Entwicklungen spricht.


Nicht so leicht zu gelingen scheint hingegen die Gewöhnung an das neueste Entwicklungsfeld einiger Innenausstatter: elektrifizierte Möbel in Form von elektronisch gesteuerten oder elektrisch unterstützten Unterschrank- und Hochschrankauszügen sowie Oberschrankklappen. Typische Kinderkrankheiten dieser relativ jungen Entwicklung wurden medial überbewertet und das Thema landete an vielen Stellen ohne weitere inhaltlich Prüfung in der Schnickschnack-Schublade. Schwarz oder Weiß. Irgendwie erinnert dies an Fensterkurbeln und Aviator-Brillen. Dabei ließe sich das Thema „Elektrifizierung von Möbeln“ mit einer gesunden Portion differenzierter Sichtweise für alle gewinnbringend nutzen. Es muss ja nicht wieder mehr als 40 Jahre dauern wie die Sache mit den elektrischen Fensterhebern, meint

Dirk Biermann, Chefredakteur
d.biermann@kuechenplaner-magazin.de