19.12.2018

„Die Küchenindustrie sollte Verantwortung für ihre eigenen Stärken übernehmen“

Trendforscher sind sich einig: Die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen werden gravierende Auswirkungen auf das Wohnen haben – und damit auf den Vertrieb und das Produktdesign von Küchen. Diese Meinung vertritt auch Harald Klüh, Global Brand Manager von Grass.

Harald Klüh, Gobal Brand Manager von Grass, tauscht sich seit vielen Jahren weltweit mit Trendforschern und anderen Fachleuten zu den Themen Wohnen, Arbeiten und Leben in der Zukunft aus. Foto: Grass

KÜCHENPLANER: Die Küche verändert ihr ­Gesicht. ­Welche Veränderungen haben Sie bislang ­beobachtet?
Harald Klüh:
Es sind im Moment viele Veränderungen sichtbar, die aus vielen verschiedenen Richtungen kommen. Meines Erachtens war es selten spannender als heute, sich mit Küche und Wohnen zu beschäftigen.

Womit Sie eine prägende Entwicklung gleich hervorheben: Küche und Wohnen als eine verschmelzende Einheit, die nicht länger getrennt betrachtet werden kann?
Genau. Das ist schon mal eine der großen Veränderungen, mit denen wir schon heute konfrontiert sind. Und künftig noch viel stärker. Wir müssen viel intensiver über Wohnkonzepte nachdenken und wie wir Stauräume variabel einrichten. Das solitäre Möbel bleibt dabei natürlich wichtig, tritt aber doch in den Hintergrund.

Sollten wir schon an dieser frühen Stelle unseres Gesprächs unterscheiden? Zwischen dem reinen Küchen­verkauf, bei dem der Preis die dominante Rolle spielt, und einer Küchenplanung im Rahmen einer Innenraumgestaltung?
Das sind tatsächlich schon heute zwei Welten, das sehe ich auch so. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Die Art und Weise, wie heute Küchen verkauft werden mit dem großen Fokus auf den Preis, ist eigentlich schon das Gestern.

Aber diese Preisfokussierung wird es doch auf abseh­bare Zeit noch geben?
Die wird es vorerst sicher noch geben. Allein, weil es Vertriebsstrukturen in Deutschland gibt, die über Jahre gut funktioniert haben und die auch die nächsten Jahre überleben werden. Doch wenn man sieht, was an verschiedenen Stellen dieser Welt passiert, nämlich dass große Unternehmen, die bisher überhaupt keine Berührung mit Küche und Wohnen hatten, diese Thematik als Quereinsteiger ganz neu, ganz anders und frisch anfangen zu interpretieren, ahnt man, wohin sich die Situation entwickeln könnte. Schauen Sie auf die Automobilindustrie. Tesla hat den Verkauf von Autos revolutioniert. VW zieht nach und verkauft künftig auch über das Internet. Unternehmen wie Amazon, Google oder Apple sind im Begriff, gänzlich neue Vertriebskonzepte zu etablieren und alten Strukturen das Wasser abzugraben. Diese werden auf Dauer komplett verschwinden. Das ist meine persönliche Prognose.

Wann könnte so ein Szenario eintreten?
Das wird mittelfristig stattfinden. Bereits in etwa 5 Jahren.

So rasch? Und wird es der Küchenbranche ähnlich ergehen?
In Deutschland existiert mit der Verbandsstruktur sicher eine besondere Situation. Darüber funktioniert der gewohnte Vertrieb noch eine längere Zeit. Weil auch der Endverbraucher im Grunde gar keine Alternative kennt zu Küchenstudio, Schreiner oder Großfläche. Das ist ein gelernter Prozess. Ich behaupte allerdings, dass es massive Veränderungen geben wird, wenn die ersten externen Anbieter ihre Konzepte umsetzen. Stellen Sie sich mal vor, Amazon käme auf die Idee zu sagen: „Lieber Kunde, wir stellen Dir die Küche kostenfrei zur Verfügung, unter der Voraussetzung, dass Du in Zukunft Deine Lebensmittel über uns kaufst.“ Wie viele Verbraucher wohl auf dieses Angebot eingingen?
Aber wir müssen gar nicht so weit blicken. Ikea hat bereits damit begonnen, das Thema Küche neu zu interpretieren. Die gehen massiv in die Innenstädte und schaffen eine ganz neue, emotionale Sensibilisierung. Sobald der Endverbraucher erkannt hat, welche Alternativen es gibt, und diese Alternativen das tun, was die aktuellen Marktteilnehmer aus Industrie und Handel über Jahrzehnte nicht gemacht haben, nämlich Kommunikation und Marketing, wird sich die gesamte Branche ändern.

Sehen Sie dabei einen Unterschied zwischen der Großfläche mit ihren teils uniform gestalteten Muster­küchenkojen und dem inhabergeführten Fachhandel mit Showroom-Charakter?
Der Fachhandel ist sicher grundsätzlich flexibler. Doch gerade die Fachhändler sind intensiv mit den Verbänden verbandelt, was sie in ihren Möglichkeiten einer flexiblen Marktbearbeitung schon wieder einengt. Mal mehr, mal weniger. Aber wer seine Selbstständigkeit so gut es geht bewahrt, hat Chancen.
Wen ich leider auf einem absteigenden Ast sehe, sind die Schreiner. Die haben zwar heute noch einen großen Stellenwert, vor allem bei uns in Österreich und auch in Süddeutschland, aber Tischler werden zunehmend an Einfluss verlieren.

Weil diese Anbieter zwar handwerklich stark sind, aber zu wenig Erlebnis ­bieten?
Genau das. Der Schreiner hat kaum eine Chance, seine Expertise zu zeigen und zu beweisen, was ihn mit seiner Kompetenz von der preisaggressiven Großfläche unterscheidet. Beim Tischler geht es allein über Empfehlung und Mund-zu-Mund-Propaganda. Aber das hat seine Grenzen. Viele Endverbraucher haben einfach mehr Vertrauen zu einem Unternehmen, das 20 000 Küchen oder mehr im Jahr verkauft, als zu einem Anbieter, der 20 Küchen oder weniger im Jahr fertigt.

Sie sagten es gibt Unternehmen, die nicht aus der Küchenbranche kommen, die aber in den Markt wollen und sich dafür ganz eigene Gedanken zum Vertrieb machen. Gibt es konkrete Beispiele – über Amazon hinaus?
Na klar gibt es die. Aber die kann ich jetzt nicht exakt benennen. Ich bin froh, dass ich Gespräche mit diesen Anbietern führen kann. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich diese Inhalte vertraulich behandle. Vielleicht dieses Beispiel: In Nordeuropa widmet sich eine große Elektrofachmarktkette neuerdings dem Thema ­Küche. Seit gut fünf Jahren investiert das Unternehmen sehr viel Geld, um in den gut 1500 Stores emotionale Küchenshops einzurichten. Der dafür zur Verfügung stehende Werbeetat ist neunstellig. Damit wird der Markt ordentlich gepusht. Und ich glaube, es wird maxi­mal drei bis vier Jahren dauern, bis dieser Anbieter den Markt dort im Griff hat.

Was macht dieses oder weitere Unternehmen konkret anders im Vergleich zum Küchenvertrieb, wie wir ihn heute kennen?
So wie es Amazon vorgemacht hat: Der Fokus liegt auf der totalen Kundenzufriedenheit. Das geht soweit, dass wir als Beschlägelieferant in der Zusammenarbeit in der Lage sein müssen, ein defektes Scharnier innerhalb von 48 Stunden auszutauschen. Darauf haben wir uns einstellen müssen. Und wir haben uns der Herausforderung gestellt. Das sind harte Voraussetzungen. Dafür braucht es Einzelverpackungen und jedes einzelne Bauteil muss in Losgröße 1 zur Verfügung stehen.
Ein weiterer Aspekt ist die bereits angesprochene Präsenz. Diese Anbieter verfügen meist über große Häuser am Stadtrand auf der grünen Wiese, gehen mit ihren Showrooms aber bewusst in die Innenstädte. Kunden können dort nichts kaufen und sofort mitnehmen, aber sie können sich alles genau anschauen, testen und live erleben. Und sie können es sofort über das Internet bestellen. Die Strategie ist also eine niedrigschwellige Präsenz dort, wo die Menschen sind. In den Innenstädten. Die Einladung lautet: Einfach mal reinkommen, anschauen und online bestellen. Dabei gibt es keinerlei Differenzierung mehr zwischen dem Kauf vor Ort und der Online-Welt. Die Wartezeiten bei der Onlinebestellung sind minimiert. Das sind ganz neue Ansätze, die ich in Deutschland noch bei keinem Anbieter mit Ausnahme von Ikea gesehen habe.

Aber sollten wir nicht etwas mehr differenzieren? Ikea macht zerlegte Möbel. Der Käufer kauft erst einmal Bretter. Das spricht angesichts einer gewissen Preistransparenz viele Kunden an. Aber bestimmt nicht alle. Auch in der Zukunft wird es viele Kunden geben, die sagen: Ich will keine Möbel zum Zusammenbauen, ich will eine fertige Küche.
Schon, aber auch das bietet Ikea mittlerweile längst an. Man kann sich seine Küche auf Wunsch montieren lassen. Und ja: Es gibt Unterschiede zum Fachhandel. Ich will mit diesem Beispiel darauf hinaus, dass es dabei um das Konzept geht, nicht nur einzelne Möbel zu verkaufen, sondern das Möbel in einem viel umfassenderen Kontext zu sehen und darzustellen. Das funktioniert bei Ikea sensationell gut. Man kann sich dort mit vielen weiteren Ausstattungen eindecken, vom Beistelltisch bis zum Schneidbrett, alles passt zueinander. Da gibt es einen ganz anderen Fluss von After-Sales oder Cross-Sales.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Sie sagen, die gelernten Vertriebsstrukturen, wie wir sie in Deutschland kennen, werden sich verändern. In fünf, sechs, sieben Jahren. Die Verbändestruktur hierzulande hält den Status quo vielleicht noch etwas länger aufrecht, aber der Markt wird sich verändern. Es kommen neue Anbieter, die etwas vom Kuchen Küche abhaben wollen und dabei völlig anders als gewohnt agieren. Nämlich hochflexibel und absolut kundenorientiert. Und die gewillt sind, mit dem Endverbraucher direkt zu kommunizieren und nachhaltig in Kommunikation und Marketing zu inves­tieren. Außerdem haben Sie die konsequente Verzahnung von Showroom und Online-Welt genannt. Ein Szenario, in dem das Angucken und Bestellen völlig gleichberechtig nebeneinandersteht. Habe ich das so in etwa richtig wiedergegeben?
Definitiv.

Sollten die Aspekte Erleben und Genuss in der Einrichtungsbranche also künftig eine noch stärkere Rolle spielen? Um die Kunden noch emotionaler abzuholen?
Das sehe ich so. Ich gehe sogar noch weiter. Schauen Sie, wie heute Autos verkauft werden. Das sind in manchen internationalen Städten eher coole Bars und Restaurants mit Autoverkauf. Warum sollte das mit Küchen und Wohnen nicht auch funktionieren? Die Menschen einladen, auch nur zum Essen zu kommen oder zum Arbeiten. Immerhin sind sie dann in einem Umfeld, das für die Themen Wohnen und Küche sensibilisiert. Damit verbunden wäre die Strategie, einen emotionalen Erlebnisbereich zu schaffen, verbunden mit Genuss und Wohlfühlen.

Also ein Angebot mit Charakterzügen, wie wir es aus dem Internet kennen: Du musst bereit sein zu geben, ohne direkt ein Ergebnis oder Kauf zu erwarten, dann bekommst Du die Aufmerksamkeit und Zuneigung Deiner potenziellen Kunden.
Das funktioniert aber nur, wenn die große Bruchstelle gekittet wird, die in den letzten Jahren im Handel entstanden ist. Die zwischen anschauen, testen, beraten lassen und kaufen. Es muss völlig irrelevant sein, ob ein Kunde im Shop kauft oder online.

Wir denken gern, dass die Küchenwelt in Deutschland stattfindet und dass es auf der ganzen Welt so zugeht, wie wir es kennen. Aber wie sieht es aus, wenn wir über den Tellerrand lugen und den Blick global werden lassen? Was bedeutet das für Ihre bisherigen Aussagen?
Es gibt einen deutlichen Unterschied. Küche und Wohnen werden an anderen Orten der Welt völlig anders und unterschiedlich interpretiert. Der Spruch „Die Küche ist das neue Auto“, wie er für Deutschland und Europa gilt, funktioniert an anderen Stellen so nicht. Diese Art Imagedenken greift nicht überall. Zudem ist sie auf bestimmte Zielgruppen begrenzt. Diese Schere beim Stellenwert von Küche und Wohnen ist zum Teil regional und kulturell begründet, aber auch den Einkommensverhältnissen geschuldet.
Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen und uns damit beschäftigen, welche aktuellen gesellschaftlichen Trends sich auf die Situation im Möbelhandel auswirken und damit auf unsere bisherigen Konzepte. Wenn wir sehen, dass Wohnraum in den großen Städten für immer mehr Menschen unerschwinglich wird und es für einen Durchschnittsverdiener inzwischen undenkbar ist, sich dort Eigentum anzuschaffen, erkennen wir, dass neue Konzepte gefragt sind. Und die gibt es bereits, wie beispielsweise jüngst umgesetzt mit einem Architektenentwurf eines Wohnblocks mit sechs Wohnungen, die allesamt über keine eigene Küche verfügen, aber über eine zentrale Gemeinschaftsküche als eine Art „Community-Küche“. Und das verbunden mit dem Angebot: Du kannst entweder 800 Euro im Monat für ein kleines Apartment mit eigener Küche bezahlen oder du mietest für 450 Euro und hast zwar keine eigene Küche, dafür aber Zugriff auf die Gemeinschaftsküche. Ich halte das für eine sehr tragfähige Option, wie künftig mit Wohnraum, der immer knapper und teurer wird, umgegangen werden kann. Viele Menschen werden schon aus Notwendigkeit auf die kleine Wohnung ohne Küche zurückgreifen. Denken wir allein an Studenten oder junge Menschen. Die sitzen ja nicht mehr mit der Familie am Tisch. Ihre Kommilitonen sind ihre Familie.

Das entspricht dem „Sharing“-Gedanken unserer Zeit. Also lieber teilen als selber besitzen wollen. Als städtisches Prinzip ist das heute schon sichtbar.
Meine Frage dazu lautet bewusst provokativ: „­Liebe Küchen- und Möbelhersteller, glaubt ihr wirklich, dass die Menschen in zehn Jahren noch im großen Stil Möbel kaufen?“ Wir „sharen“ Autos, nutzen Fahrräder, wenn wir sie brauchen, oder leihen uns die Bohrmaschine, wenn wir ein Loch in die Wand bohren wollen, und geben sie zurück, wenn wir damit fertig sind. Wenn ich etwas über die Generationen X und Y gelernt habe, dann ist es das: Der Besitz von Dingen ist immer weniger eine Option, so wie wir es in unserer Generation noch gelernt haben. Frei nach dem Motto: Musik gehört mir nur, wenn ich die Dateien auf dem Rechner habe. Der physikalische Besitz verliert an Reiz. Die jungen Leute streamen und es ist ihnen völlig egal, dass sie es morgen nicht mehr haben. Sie können es sich ja jederzeit erneut beschaffen. Warum sollte das bei Möbeln auf Dauer anders funktionieren?

Das klingt nachvollziehbar. Aber was bedeutet das für ein Unternehmen wie Grass? Jede nicht verkaufte Küche tut weh.
Die Frage, wo wir unsere Rolle für die Zukunft sehen, ist eine ganz entscheidende Frage. Persönlich glaube ich nicht, dass die Zahl der verkauften Küchen sinken wird. Die Menge wird gleichbleiben, vielleicht sogar steigen. Es fragt sich nur, wer das Geschäft organisiert und durch welche Kanäle der Vertrieb erfolgt. Beispiel Projektgeschäft: In vielen Teilen der Welt findet das viel intensiver statt als in Deutschland. Dabei kauft nicht mehr jeder Wohnungsnutzer selbst, sondern der Küchenkauf wird kanalisiert. Und das im Rahmen abgestufter Preise und Ausstattungen – und inklusive einer zentralen „Community-Küche“.

„Sharing“ ist einer der großen Trends unserer Zeit und wird an Bedeutung weiter zulegen. So scheint es. Ein weiteres wichtiges Thema in den ­Augen vieler Menschen ist das Thema Sicherheit. Darauf zielen auch die Strategien von „Homing“ oder „­Cocooning“. Verbunden mit der Botschaft: „Die Welt ist ein feindlicher Ort und nur zu Hause bist Du ­sicher. Mach es Dir dort so gemütlich wie möglich.“ Mit dieser Botschaft verdient die Branche derzeit viel Geld. Wie passen die Gedanken von „Sharing“ und „Safety first“ auf Dauer zusammen?
Gar nicht. Diese Überbetonung von Sicherheit sehe ich auch eher als einen momentanen Aspekt und als ein Thema, das nicht von allen Menschen identisch bewertet wird. Wer sich mit den jungen Zielgruppen auseinandersetzt, wird das dort nicht finden.

Das sich ständige Sorgen machen und die Flucht ins Private ist also eher ein Problem unserer Generation?
Die Airbnb-Generation kennt diese Sorgen nicht so sehr, Sharing-Gedanken und der völlig natürlich gelebte Anspruch an eine allgegenwärtige Mobilität sind da sehr viel ausgeprägter. Damit verändert sich auch die Arbeitswelt und die grundlegende Definition von Zuhause. Heute ziehen wir in Deutschland statis­tisch vier Mal im Leben um, Experten rechnen damit, dass es in 2030 elf Mal sein wird. Bis dahin ist es nicht mehr lange.
Manche Einschätzungen gehen sogar noch weiter: Es wird gar keine festen Arbeitsplätze mehr geben und auch kein festes Zuhause. Der Mensch richtet sich mit den vorhandenen Möglichkeiten dort ein, wo er sich gerade befindet. Er nutzt das, was da ist. Das gilt fürs Arbeiten und fürs Wohnen. Deshalb wird es auch in der Summe nicht weniger Küchen geben – um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen – sie werden nur anders genutzt und anders zur Verfügung gestellt. Diese Entwicklung ist in manchen globalen Mega-Cities schon ablesbar. Und in der Arbeitswelt in manchen Bereichen sowieso.

Ich möchte noch einen Moment beim Wohnen bleiben: In Deutschland leben längst nicht alle Menschen in Großstädten. Konkret sollen es rund ein Drittel der Bundesbürger sein, die in einer der 85 großen Städte mit mehr als 100.000 Einwohner leben. Also leben Zweidrittel der Menschen in kleineren Städten, in Ortschaften oder auf dem Land. Das sind rund 55 Millionen. Kürzlich habe ich gelesen, dass es sogar immer mehr Menschen in die Kleinstädte zieht, weil sie sich das Leben in der Großstadt immer weniger leisten können oder wollen. Kommt die skizzierte gesellschaftliche Entwicklung dort auch an, nur mit Verzögerung?
Eine unter Trendforschern sehr häufig zitierte Prognose lautet, dass bis 2030 etwa 70% der weltweiten Bevölkerung in Mega-Citys leben werden. Wenn wir über den Tellerrand des Heimatmarkts hinausblicken, reden wir damit über die verbleibenden 30 %. Aber ich bin durchaus Ihrer Meinung: Auch ich frage mich, ob die Aussage wirklich stimmt, dass 70% der Menschen in Mega-Citys leben werden. Die Digitalität eröffnet schließlich auch in der regionalen Präsenz ganz neue Möglichkeiten fürs Arbeiten und Leben. Und doch gibt es ein ABER: Die gesamte Infrastruktur künftiger Mobilität, ob in der Luft oder in selbstfahrenden Autos, wird es erstmal in den städtischen Zentren geben. Die ländlichen Gegenden laufen schon heute Gefahr auszubluten und von den Bewohnern verlassen zu werden. Was das für die angesprochenen möglichen Entwicklungen bedeutet: In der Stadt kann ich viele Dinge teilen, auf dem Land muss ich es noch besitzen.

Also gehen mögliche Entwicklungen mittel- und langfristig Hand in Hand und welche Dynamik im Einzelfall wo genau zum Tragen kommt, lässt sich heute noch nicht ganz genau sagen. Auch wenn es gewisse Tendenzen gibt. Wir müssen also auch in der Küchenbranche unsere Fantasie spielen lassen, wenn wir uns auf die Zukunft vorbereiten wollen.
Das finde ich extrem wichtig. Und doch ist zu be­obachten, dass kein einziger Möbel- und Küchenhersteller auch nur mit dem Gedanken zu spielen scheint, dass es künftig keinen Besitz von Möbeln mehr geben könnte oder sich immer weniger Menschen dafür im großen Stil begeistern lassen. Und auch wenn es nur für einen Teil der Menschen zum Tragen kommt: Allein die Entwicklung zu einer Gesellschaft, die lieber teilt und nutzt als besitzt, wird den Umsatz in Märkten völlig neu verteilen.

Und wenn alle Welt lieber teilt als besitzt, wird in der Summe weniger Umsatz generiert.
Das sehe ich anders: Wenn wir in einer mobilen Gesellschaft an einem Tag an verschiedenen Orten sein können und wollen und beabsichtigen, uns dort wohlzufühlen, nutzen wir sogar mehr Möbel und Küchen. Es wird nur völlig anders organisiert.

Der Küchenmöbelindustrie kann es doch egal sein, wem sie ihre Produkte liefert und wer sie vertreibt. Also hat in erster Linie der Handel ein Problem mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung zur „Sharing Community“.
Der Industrie könnte es egal sein. Aber damit kommen wir zu einem anderen extrem wichtigen Thema. Ich verstehe nicht, warum die deutschen Küchenmöbelhersteller die letzten 15 Meter des Abverkaufs ihrer Produkte aus der Hand geben. Das sind die wichtigsten 15 Meter. Diese letzten Meter entscheiden nicht nur, ob das Produkt verkauft wird, sondern vor allem zu welchem Preis.

Der Handel als Nadelöhr für die Industrie?
Ich würde der Industrie zwingend empfehlen, die Zügel endlich selbst in die Hand zu nehmen. Nicht im Sinne von Direktvertrieb sondern bezogen auf Kommunikation, Marketing und Preispolitik. Ich würde ausnahmslos allen Herstellern empfehlen, selbst in die Kommunikation mit den Endkunden einzusteigen und den Verkauf und die Preispolitik selbst zu gestalten, statt sich ohne jegliche Möglichkeit der Einflussnahme vermarkten zu lassen. Der Küchenverkäufer sollte beraten und planen – aber grundlegendes Design, Verkauf und Preispolitik gehört in die Hände der Hersteller. So könnte jeder seine Kompetenzen ausspielen. Wenn insbesondere die Volumenhersteller sich weiter dem preisdominierten Vertrieb mancher Vertriebs­partner ausliefern, werden sie nur verlieren können.

Das ist eine sehr interessante Sichtweise. Und eine Thematik mit vielen, vielen Teilaspekten und Sensibilitäten – aber lassen Sie uns noch über das konkrete Produkt Küche sprechen.
Sehr gern.

Nach Eurocucina und Küchenmeile hatte ich den Eindruck: viel Grün, viel Schwarz, viel matt. Woher rührt die Lust auf matte Oberflächen? Liegt das allein an der Regel „nach Glanz kommt matt – das ist so“? Oder gibt es eine weitere Erklärung?
Ich habe zwei Begründungen. Den ersten Grund haben Sie genannt. Wir haben uns in den letzten Jahren an Glanz sattgesehen. Der Zweite liegt wohl daran, dass wir den ganzen Tag mit gläsernen, glatten und spiegelnden Oberflächen konfrontiert sind und wieder nach Haptik suchen. Dafür muss es weggehen von den Hochglanzoberflächen. Das ist eine ganz logische Entwicklung. Matt ist eine Reaktion auf die vielen glatten Oberflächen der digitalen Welt.

Die Lust auf markante Naturmaterialien wie Stein, Holz und Metall ist dann gleichfalls mit dieser Gegenbewegung zu erklären?
Der Wohlfühlcharakter in unseren Innenräumen wird immer wichtiger. Also weg von cleanen, weißen Oberflächen hin zu mehr Lebendigkeit und Naturnähe. Das viele Grün, dass wir auf der Eurocucina gesehen haben, basiert auf dem Wunsch, in einer technischen und von Beton geprägten Welt mehr Natürlichkeit zu spüren. Wir wollen mehr Natur, kommen aber nicht raus aus der Stadt, deshalb muss die Natur zu uns.

Ein weiterer Gestaltungstrend ist das transparente Spiel von offenen und geschlossenen Flächen. Lassen Sie es mich direkt formulieren und aus praktisch motivierten Beweggründen: Ist das Regal in der Küche überbewertet und eigentlich ziemlich unsinnig?
Ja . . . ☺ . . . ich sehe das im Zusammenhang mit einem weiteren häufig genannten Trend: der Individualisierung bzw. Customizing. Unsere Wohnumgebung soll immer individueller und persönlicher werden. Das findet durchaus statt. Doch wie hoch ist der Anteil der Möbelhersteller an der Umsetzung wirklich? Die meis­te Individualität steuert der Nutzer selbst bei. Durch den Content, also den Inhalt, den er mitbringt. Für Hersteller sind Regale eine geniale Möglichkeit, den Nutzer in Sachen Individualität für sich arbeiten zu lassen, ohne selber individuelle Möbel entwickeln zu müssen. Also kurz gesagt: Das, was in einem Möbel drinsteht, macht häufig die Individualität aus, aber nicht das Möbel selbst. Die Offenheit eines Regals bietet dafür die beste Bühne. Der Nutzer macht es individuell, aber die Industrie hat wenig Anteil daran.
Und weiter zum Thema Customizing: Diese Individualisierungsoptionen werden meiner Ansicht nach von vielen in Industrie und Handel falsch interpretiert. Individualisierung heißt nicht, „wir bieten jetzt Dutzende verschiedene Korpusfarben an, 12 Licht­sys­teme, drei Glanzgrade in acht Oberflächenstrukturen, 3000 RAL- oder Sikkens-Farben und . . . und . . . und“. Das führt dazu, dass sich überhaupt niemand mehr auskennt. Endverbraucher sind damit überfordert. Die menschliche Psyche scheitert an mehr als fünf Entscheidungsoptionen. Hersteller sollten die Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, nutzen und Einrichtungsbeispiele konfigurieren, die sich im Detail natürlich verändern oder erweitern lassen, sie sollten den Verbraucher aber nicht mit der Vielzahl an Möglichkeiten allein lassen und einfach sagen: „Du kannst aus allem auswählen, entscheide dich und melde dich, wenn du soweit bist.“ Wenn wir dem Endverbraucher das Design von Möbeln überlassen, ist das der Untergang des Abendlandes. Der Hersteller muss entscheiden, wie das Produkt am besten ausschaut, in welchem Material und mit welchen Oberflächen es gestaltet wird. Das ist seine Kompetenz.

Die Küchenmöbelhersteller sollten sich also auch hier mehr einmischen? Über den Kopf des Handels hinweg?
Es genügt nicht, dem Handel Farbtafeln zur Verfügung zu stellen und sich dann aus dem Planungs- und Vertriebsprozess herauszuhalten. Die Hersteller sollten sich zeitnah ihrer Kompetenz und Verantwortung bewusst werden und wahrnehmen, welche Möglichkeiten und Expertise sie haben. Sie müssen es aber auch machen und konkrete Konfigurationen zur Verfügung stellen, sich beim Design einbringen und den perfekten Stauraum schaffen. Die Aufgabe des Handels ist es dann, seine eigenen Stärken auszuspielen und den ergänzenden Service zu bieten: eine emotionale Präsentation im Showroom zu realisieren und fachlich gut zu beraten. So sind alle im Boot. Mit ihren jeweiligen individuellen Stärken.

Mich treibt beim Thema Regal ein weiterer Gedanke um. Egal ob separater Arbeitsraum oder offener Grundriss: Fettige Kochwrasen sind trotz der immer erfolgreicheren Bemühungen der Hersteller von Dunstabzugshauben Realität. Und diese fettigen Wrasen kümmern sich nicht um Einrichtungstrends. Denen ist egal, ob sie sich auf einem wenig beachteten Küchenoberschrank niederlassen oder auf einem Regalbrett. Das ist doch extrem unpraktisch ...
Es gibt im Design diese wunderbare Idee von „Form follows function“. Die ist derzeit nicht umgesetzt. So schön ich diese offenen Flächen finde, sie sind tatsächlich unpraktisch. Sie verstauben und man muss immer Ordnung halten. Man darf deshalb schon die Frage stellen, ob Regale die stimmige Richtung sind. Sie sind schön, aber unpraktisch. Deshalb haben Ideen, die genau den anderen Weg einschlagen und alles verdecken, auch ihren Reiz. Das sind funktionalere Lösungen für das Wohnen von morgen.

Was bedeutet das alles im Kern mittel- und langfristig für das Unternehmen Grass und die Entwicklung künftiger Produkte?
Mit diesen Trends und möglichen Entwicklungen setzen wir uns schon seit mehreren Jahren intensiv auseinander und machen auf vielen verschiedenen Ebenen unsere Hausaufgaben. Wir diskutieren neue Strategien und Geschäftsfelder.

Zum Beispiel?
Dazu zählt sicher grundsätzlich die Frage, ob wir als reiner Schubkasten- und Scharnierlieferant noch zukunftsfähig sind. Mittelfristig wird es verstärkt um die Entwicklung neuer Geschäftsfelder und die Vermarktung bis hin zum Endverbraucher gehen. Eine starke Marke wird zunehmend wichtiger. Denn langfristig werden neue, preisaggressive Wettbewerber aus Asien auf der Bildfläche erscheinen, gegen die wir uns deutlich abgrenzen müssen. Aber das gilt für die gesamte Branche. Letztlich geht es auch um tragfähige Kooperationen und die Frage: Was können wir mit unserem Know-how in Zukunft leisten, wenn wir unsere Stärken mit den Stärken weiterer Partner zusammenbringen.

Herr Klüh, vielen Dank für dieses ausführliche und offene Gespräch.

Das Gespräch führte Dirk Biermann